Ankerherz History: die große Pest von Marseille

Ankerherz History: die große Pest von Marseille - Ankerherz Verlag

Was ist der richtige Umgang mit der Coronakrise? Totaler Lockdown mit möglichst wenig Kranken – oder eine vorsichtige Lockerung, damit die Wirtschaft wieder anspringt? Wohin zu große Ungeduld und Druck des Handels führen kann, zeigt dieser Blick in die Geschichte. Die große Pest von Marseille – ein neuer Beitrag in Ankerherz History.

Die Bürger von Marseille hatten aus ihrer Geschichte gelernt, zumindest dachten sie das. Ende des Jahres 1580, nach dem letzten großen Ausbruch der Pest, etablierten sie eine Gesundheitsbehörde. Dieser Behörde, fortschrittlich für ihre Zeit, gehörten neben Ratsherren auch Mediziner an. Sie gab nicht nur die medizinischen Richtlinien vor, sondern etablierte auch die Versorgung mit Krankenhäusern in der Hafenstadt und stellte sicher, dass es fähige Ärzte gab.

Zum Kontrollsystem, das die Gesundheitsbehörde aufstellte, gehörte ein dreistufiges Kontroll- und Quarantänesystem. Mitglieder der Behörde inspizierten alle Schiffe, die sich dem Hafen von Marseille näherten, und verteilten Gesundheitszertifikate.

Das Gesundheitssystem von Marseille

Die Kontrolleure untersuchten das Logbuch, sahen sich die Fracht an und untersuchten die Crew. Gab es nur ein Anzeichen, dass sich eine Seuche an Bord befand, bekam das Schiff keine Einlaufgenehmigung. Jedes Schiff musste mindestens 18 Tage lang in Quarantäne; hatte das Schiff keinen akuten Krankheitsfall an Bord, aber in der Vergangenheit einen Hafen angelaufen, in dem die Pest ausgebrochen war, musste die Besatzung zwischen 50 und 60 Tage in Quarantäne.

Dafür gab es ein System aus vorgelagerten Lazaretten rund um die Stadt, in denen die Seeleute untersucht wurden. Erst nach einer Untersuchung und mit einem gültigen Gesundheitszeugnis durften die Crews in die Stadt, um ihre Waren zu verkaufen und sich zu amüsieren.

So weit, so modern, so klug, sollte man meinen. Zumindest bis in den Mai des Jahres 1720.

Das Handelsschiff Grand-Saint-Antoine näherte sich der Stadt. Es kam aus Sidon im Libanon und hatte Tripolis und Zypern angelaufen, das von der Pest heimgesucht wurde. Mehrere Crewmitglieder, ein Passagier und der Schiffsarzt starben. Livorno verweigerte dem Schiff, in den Hafen zu segeln – und auch die Gesundheitsbehörde von Marseille lehnte die Einfahrt ab.

Die Kaufleute machten Druck

An Bord der Grand-Saint-Antoine befand sich aber eine Ladung aus Seide und Baumwolle. Einflussreiche Händler in Marseille hatten gerade neue Märkte im Mittleren Osten und der Neuen Welt erschlossen – sie brauchten die Ladung dringend für eine Messe. Die Kaufleute setzten die Behörden unter Druck. Die Quarantänezeit wurde entgegen der Vorschriften deutlich verkürzt.

Wenig später brach die Beulenpest in den Armenvierteln von Marseille aus. Die Versorgung in den Krankenhäusern brach unter dem Ansturm zusammen. Panik machte sich breit und man hob eilig Massengräber am Stadtrand aus. Versuche, die Ausbreitung der Beulenpest zu verhindern, sahen unter anderem Pestmauern und die Todesstrafe für Reisende vor, die Marseille in Richtung der Provence verließen.

Doch es war zu spät.

In den nächsten zwei Jahren starben in Marseille 50.000 Menschen, mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Weitere 50.000 Opfer gab es, als sich die Seuche nach Norden ausbreitete, in Städten wie Arles, Apt oder Toulon.

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