DIE PIRATEN VON BUENAVENTURA
VON KAPITÄN GERHARD LICKFETT, HAMBURG, AN BORD DER „MS SCHWABENSTEIN“. Auszug aus unserem Buch „Wellenbrecher„. In der Anthologie erzählen 25 alte Kapitäne die spannendsten Abenteuer ihres Lebens. Das Buch gibt es überall im Handel und hier im Online Buchladen.
(aufgeschrieben von Stern Kruecken, Ankerherz)
Der Name des kolumbianischen Kaffeehafens Buenaventura mag wie eine schöne Melodie klingen, aber die Wirklichkeit sah trostlos aus. Für mich war Buenaventura der hässlichste Hafen der Welt. Die Gebäude waren heruntergekommen, überall sah man Müll und Verfall und es galt, wegen der mörderischen Kriminalität vorsichtig zu sein. Wer am schnellsten schoss, der hatte Recht in Bunaventura. Sich auf den Boden zu werfen, wenn Kugeln flogen, gehörte fast zum Alltag.
Während eines Landgangs gerieten einige Offiziere und ich, im Dezember 1980 der Erste Offizier an Bord des Frachters „Schwabenstein“, in einen Raubüberfall auf ein Lohnbüro. Eine wilde Schießerei zwischen Gangstern und Soldaten begann. Ich lag im Staub der Straße und konnte beobachten, wie sich ein Uniformierter beim Hantieren mit seinem Gewehr in den Fuß schoss. Statt eines Krankenwagens kam später ein Gabelstapler und fuhr den vor Schmerz winselnden Verletzten ab.
Am Ohr vorbeigeschossen
Wir hatten auf dieser Reise der „Schwabenstein“ Industriegüter ausgeladen und legten an einem Samstag um 6 Uhr morgens ab, mit Kurs Valparaíso in Chile. Auf der Brücke galt erhöhte Wachsamkeit, denn die Gewässer waren wegen der Überfälle von Piraten gefürchtet. Erst einige Tage zuvor hatten Seeräuber einen japanischen Frachter im Hafen überfallen und die Besatzung gezwungen, ihnen Uhren und Ringe auszuhändigen, wobei sie ihre Drohung verstärkten, indem sie einem Offizier direkt am Ohr vorbeischossen.
Wir liefen mit 13 Knoten durch den Pazifik vor Bunaventura und setzten den Lotsen ab, der uns durch die Sandbänke vor der Hafeneinfahrt manövriert hatte. Von der Brücke aus beobachtete ich, dass wir durch eine Gruppe von kleinen Fischerbooten fuhren, die in der Fahrrinne trieben. Dann empfingen wir einen Funkspruch auf dem Notrufkanal. „‚Schwabenstein‘, Sie werden geentert!“, rief der Lotse, „viele Leute an Deck!“ Es war 7.33 Uhr.
Offenbar kletterten die Piraten im toten Winkel auf den Bug, den man wegen der Container von der Brücke aus nicht einsehen konnte. Ich gab sofort Generalalarm und befahl, die Frauen – unser Chief und der Zweite Offizier hatten auf der Reise Damenbegleitung – in ihre Kabinen zu bringen. Die Mannschaft, darunter viele Türken, unterbrach ihr Frühstück und stürmte an Deck. Wir bildeten zwei Stoßtrupps. Unser einfacher Plan: den Kriminellen mit Werkzeugen und unter kurdischem Kriegsgebrüll Angst einzujagen und sie so zu vertreiben.
Ein Seemann ist kein Hasenfuß
Es mag nun Zeitgenossen geben, die einen solchen Angriff für töricht halten und die glauben, dass es besser sei, sich irgendwo an Bord einzuschließen. Aber zum einen ist das Schiff für einen Seemann ein zuhause, das er verteidigt, und zum anderen kann niemand sagen, ob es wirklich sicherer ist, sich vor einem Angreifer zu verstecken. Ein Seemann ist ein Seemann und kein Hasenfuß.
Wir liefen die Gänge zwischen den Containern entlang und sahen, dass die Verbrecher einen Behälter für Olympia-Schreibmaschinen aufgebrochen hatten und damit beschäfigt waren, die Kisten aus Styropor über Bord zu werfen. Wegen der Verpackung schwammen sie wie Fischerbojen und wurden von Komplizen in kleine Boote umgeladen.
Als sie unsere Schreie hörten, fuhren sie herum. Drei von ihnen hielten etwas in den Händen, etwas Metallisches. Womöglich Revolver? Ich warf mit einem Hammer, verfehlte jedoch und traf nur einen Eisenpfosten. Dann peitschten Schüsse über Deck. Eine Kugel schlug Zentimeter neben dem Kopf des Bootsmanns in den Container ein. Wir gingen in Deckung, soweit das möglich war. Ich kauerte vor einer Stahlkonstruktion, die für eine Silbermine in Bolivien bestimmt war und mit fünf Drähten gelascht war, damit sie bei Seegang nicht über Bord ging. Schüsse, wieder fielen Schüsse. Ich hörte ein Geräusch.
Ein lautes „Pling“.
Ich sah eine Kugel, eine zusammengedrückte Kugel, genau vor meinen Füßen auf dem Deck liegen. Offenbar war sie am daumendicken Draht abgeprallt, der quer vor meiner Brust lief. Der Draht hat mir das Leben gerettet. Welch ein Zufall, welch unglaubliches Glück. Ich bewahre die Kugel bis heute auf.
Die feigen Verbrecher schossen weiter, bis ihre Magazine leer waren. Als wir merkten, dass ihnen die Munition ausging, griffen wir wieder an. Mit lautem Gebrüll stürzten wir vorwärts. Die Piraten kletterten über die Reling eine behelfsmäßige Leiter hinunter in drei Motorboote, von wo aus sie ihre Pistolen nachluden und erneut auf uns feuerten. Wegen des Seegangs und der Bugwelle kamen die Schüsse ungenau. Ich fürchtete, ein Querschläger könnte einen Behälter mit Blausäure auf Höhe von Luke 1 treffen, den wir an Bord transportierten. Kurz darauf verschwanden die Boote aus unserem Blickfeld. Um genau 7.41 Uhr war der Überfall vorbei. Acht Minuten hatte der Horror gedauert. Wir waren erschrocken, aber es gab keine Verletzten. Über Funk alarmierten wir die Sicherheitsbehörden in Bunaventura, aber das, so wussten wir, war nur fürs Protokoll und für die Versicherungsunterlagen.
Als ich abends in der Koje lag, als ich zur Ruhe kam und mir bewusst wurde, was geschehen war, habe ich geweint. Noch nie war ich dem Tode so nahe. In jenen acht Minuten vor dem Hafen von Bunaventura, da bin ich ganz sicher, hat ein Engel auf mich aufgepasst.
Gerhard Lickfett, 1937 in Danzig geboren, gilt weltweit als einer der erfahrensten Kapitäne von Großseglern. Vom Schiffsjungen durchlief er eine klassische Karriere zum Kapitän auf Großer Fahrt. Der Kapitän ist ein leidenschaftlicher Sportler und ging mit 69 Jahren in Ruhestand. Lickfett verstarb 2017.