Seemannsdiakon Sturm: Geht Fortschritt ohne menschliches Konzept?

Seemannsdiakon Sturm: Geht Fortschritt ohne menschliches Konzept? - Ankerherz Verlag

Funktioniert Fortschritt ohne menschliches Konzept? Jeden Donnerstag, dem Seemannssonntag, schreibt Fiete Sturm seine Kolumne für den Ankerherz Blog. Fiete ist der Seemannsdiakon von Hamburg-Altona und Leiter der dortigen Seemannsmission. In der ersten Folge nach seinem Urlaub geht es um das vorläufige Ende einer Utopie.

Ich bin zurück aus dem Urlaub, setze ich mich an die Tasten und überlege, was das Thema meiner aktuellen Kolumne sein soll. Natürlich fällt mir sofort das Wochenende in Berlin ein: Corona-Leugner, Verschwörungstheoretiker, Vertreter rechtsextremer Strömungen und ein Sammelsurium verängstigter, überforderter Menschen bis hin zu esoterisch schwer abgedrehten Gestalten. Dann noch der „Sturm auf den Reichstag“.

Auf der anderen Seite merke ich schnell, dass ich eigentlich schon sehr viel zu dem Thema gelesen habe. Um genau zu sein, fast schon unzählige Meinungen. Nicht wenige davon aus meinem Bekannten- und Freundeskreis aber auch von Personen des öffentlichen Lebens. Ich stimme den meisten Analysen und Meinungen zu, schränke hier und da ein oder versuche noch weitere Aspekte ins Spiel zu bringen. Am Ende merke ich, wie müde mich das macht. Ich verwerfe das Thema wieder und reflektiere etwas meine aktuelle Gemütslage.

Überfordert mit der Flut aus Nachrichten

Ich betrachte mich ohne schlechtes Gewissen als aufgeklärten und leidlich intelligenten Menschen. Ich gehöre der ersten Generation an, die mit dem Internet und der digitalen Welt aufgewachsen und groß geworden ist. Ich weiß, wie ich mir Informationen beschaffe und diese recht zuverlässig auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen kann. Im Rahmen meiner Ausbildung habe ich mich intensiv mit Medienpädagogik beschäftigt. Und trotzdem fällt es auch mir immer schwerer, mich durch diese Informationsflut zu kämpfen.

Ich habe einfach manchmal keine Lust mehr, ständig zu hinterfragen, zu analysieren und zu interpretieren.

Das Netz und die sozialen Medien überfordern mich, einen „digital native“ (jemand der mit dem Internet und Computern aufgewachsen ist) schlicht und ergreifend von Zeit zu Zeit. Und dann sehe ich da auf der Straße in Berlin unter anderem Menschen aus der Generation meiner Mutter, wie sie wirre Verschwörungstheorien aus dem Internet zum Besten geben. Ich frage mich, wie sie überhaupt noch in der Lage sein sollen, zu unterscheiden, was ihnen in ihrer „Filterblase“ in den Sozialen Medien begegnet: Was ist falsch oder was ist wahr ist?

Traum von einer besseren Welt

Seit Kindestagen habe ich mich für „Star Trek“ begeistert. Habe mit meinem Stiefvater gebannt die Abenteuer des Raumschiff Enterprise mit Captain Kirk, Picard und wie sie alle heißen verfolgt. Eine Sci-Fi Geschichte in unzähligen Episoden, die eine bessere Welt zeichnet. Eine Utopie. Ja, es gibt oft Probleme. Doch die Menschheit löst diese meist friedlich und vernunftbasiert. Geißeln wie Diskriminierung, Totalitarismus, Krankheiten, Hunger usw. sind größtenteils überwunden. Das Geld wurde abgeschafft und die freie Persönlichkeitsentfaltung ist ein zentraler Bestandteil der Gesellschaft.

Bei all dem ist die Technik, Wissenschaft und freier Zugang zu Informationen elementares Werkzeug des Erreichten. Eine Welt, in der ich gerne leben würde. Und von der ich immer geglaubt habe, dass sie so oder so ähnlich eines Tages wahr werden könnte.

Aktuell sehe ich Menschen wie Attila Hildmann, die via Twitter, Telegram und Co ihre wirren und gefährlichen Ideen unters Volk streuen. Ich sehe, wie die AfD und andere Rechtsextreme bösartig Facebook und andere digitale Medien missbrauchen, um zu spalten und ihr Gift zu verbreiten. Ich glaube wahrzunehmen, wie unsere moderne, aufgeklärte Gesellschaft sich in großen Teilen vom Grundgedanken einer solidarischen Gemeinschaft löst. Wie das individuelle Wohl über das aller anderen erhoben wird. Eine Kultur, in der es dann heißt: Wenn ich mein Flatscreen habe, mein Auto, mein Haus – dann kann ich mich auch gerne um viel beschriebene „pfandflaschensammelnde Oma“ kümmern.  Doch wehem der Asylbewerber aus Syrien bekommt auch nur einen Cent mehr als ich!

Was bedeutet Fortschritt?

In solchen Momenten frage ich mich, wo meine Utopie bleibt. In der die Technik und der Fortschritt uns dabei helfen, zu besseren Menschen zu werden. Versteht mich nicht falsch. Diese Zweifel und Gedanken sind nicht meine normale Einstellung. Ich bin ein von Grund auf positiver und idealistischer Mensch. Und ich denke wir können den Bogen zur besseren Welt noch immer hinbekommen. Aber ich mache mir auch keine Illusionen darüber, dass dies für uns alle ein gutes Stück Arbeit bedeutet. Dass wir uns derer annehmen müssen, die sich abgehängt und vernachlässigt fühlen.

Aber vor allem, dass wir uns immer wieder klar machen müssen, dass Fortschritt ohne menschliches Konzept uns auf lange Sicht keinen Nutzen bringt.

Diese Idee ist übrigens nicht meine und auch alles andere als neu. Schon in der Bibel im Hohelied der Liebe (1. Korinther 13) steht:

„Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.“

Wie sieht es bei euch aus? Habt ihr ähnliche Erfahrungen gemacht oder würdet ihr mir widersprechen? Ich würde mich freuen wenn ihr mir einen Kommentar unter dem Facebook-Eintrag bei Ankerherz hinterlasst und wir vielleicht ins Gespräch kommen!

Euer Fiete Sturm aus dem Hamburger Hafen

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