Das Rätsel der Estonia. Jeden Samstag schreibt Ankerherz-Verlagsleiter Stefan Kruecken eine „Geschichte vom Meer“ für die Hamburger Morgenpost. Am Jahrestag der Katastrophe der Estonia geht es um das größte Schiffsunglück Europas in der Nachkriegszeit. Das noch immer ein Rätsel ist.
Schwere See ist angesagt, als die große Fähre den Hafen von Tallinn verlässt. Ein Herbststurm zieht über die Ostsee, doch das sollte kein Problem für ein modernes Schiff wie die Estonia sein. Der Kombicarrier, der auch Autos an Bord hat, nimmt Kurs auf Stockholm.
Es ist der Abend 27. September 1994, 19:17 Uhr.
Damit beginnt eine Reise, die als größte Schiffskatastrophe der europäischen Nachkriegsgeschichte endet.
Um 1:22 Uhr setzt die Estonia ein Mayday ab, das von einigen Schiffen in der Umgebung aufgefangen wird. Nur sieben Minuten später reißt der Funkkontakt ab. Das Schiff sinkt mit unglaublicher Geschwindigkeit, und für die Passagiere beginnt ein Kampf ums Überleben. Die Wellen schlagen zehn Meter hoch, die Ostsee hat nur 13 Grad.
Warum sank die Estonia?
Mindestens 852 Menschen sterben in dieser Nacht. Sie ertrinken oder erfrieren in den Rettungsinseln. Nur 137 Passagiere überleben das Unglück, und sie berichten von furchtbaren Szenen. Viele sind bis heute traumatisiert.
Was verursachte den Untergang der Estonia? Auch am heutigen Jahrestag der Katastrophe, ein Vierteljahrhundert danach, ist diese Frage nicht beantwortet. Untersuchungskommissionen, Staatsanwälte und Wissenschaftler fanden keine Antwort.
Oder sollten sie keine finden?
Auffällig ist, wie viele Nachlässigkeiten, grobe Ermittlungspannen und Ungereimtheiten es gibt. Wichtige Beweismittel verschwanden. Die damalige schwedische Regierung wollte einen 33 Millionen € teuren Betonsarg um das Schiff bauen lassen, angeblich, um die Totenruhe zu bewahren. Nur die wütenden Proteste der Angehörigen, die Gewissheit haben wollen, wie es zum Unglück kam, verhinderten dies.
Spekulationen zum Untergang
Es gibt Spekulationen, dass der russische Geheimdienst eine Bombe an Bord zündete, um illegale Militärtransport zu vertuschen. Einige Überlebende haben die Theorie, dass das Bugvisier der Estonia abgesprengt wurde und sie deshalb so schnell sank. Andere gehen davon aus, dass die Mafia die Reederei erpresste. Ein amerikanischer Journalist will Beweise gefunden haben, dass die Fähre mit einem U-Boot kollidierte.
Filmemacher und Journalisten haben sich mit der Katastrophe beschäftigt; die britische Band „Marillion“ veröffentlichte einen Song namens Estonia. Der Text lautet übersetzt: „Eine Antwort zu finden, ist eine menschliche Besessenheit /Sie können aber auch mit den Steinen, den Bäumen und dem Meer sprechen / Denn niemand weiß es“.
UPDATE, 28. September 2021
Ein privat finanziertes Expertenteam aus Estland ist zur Unglücksstelle aufgebrochen. Im Auftrag der Hinterbliebenen-Organisation der Opfer der Schiffskatastrophe stach ein Forschungsschiff am Samstag (25. September) im niederländischen Eemshaven in See. Es soll voraussichtlich am Mittwoch am Unglücksort eintreffen und dort neue Untersuchungen einleiten, wie estnische Medien berichten. Dabei sollen verschiedene Sonargeräte zum Einsatz kommen.
Geleitet wird die Expedition vom früheren estnischen Staatsanwalt und „Estonia“-Ermittler Margus Kurm. „Unser Ziel ist es, alle Schäden am Wrack der Estonia zu kartografieren, zu filmen und zu scannen sowie das Autodeck und die Umgebung des Wracks zu untersuchen“, sagte er. Gleichzeitig startete auch eine offizielle Untersuchung durch staatliche Behörden. Weil man diesen offenbar nicht mehr vertraut, startete die private Initiative.
Die Wahrheit im Falle der Estonia soll endlich ans Licht.
Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründeten Ankerherz Verlag. Vorher war er Polizeireporter für die Chicago Tribune und arbeitete als Reporter für Zeitschriften wie max, Stern und GQ von Uganda bis Grönland.