Der Stolz der Docker. Jede Woche schreibt Ankerherz-Verlagsleiter Stefan Kruecken eine Geschichte vom Meer, die auch in der Hamburger Morgenpost erscheint. In dieser Folge geht es um den Stolz der Docker von London.
Auf den Kais und Kajen in den Häfen von Hamburg und Bremerhaven geht die Angst um. Die Hafenarbeiter fürchten, dass ihre Arbeitsplätze zusammengestrichen werden, weil viele Millionen Euro gespart werden sollen. Sie fragen sich, welche Rolle sie in den Verhandlungen der Bosse spielen, wenn es um die Zusammenarbeit von Bremerhaven, Hamburg und Wilhelmshaven geht. Sie machen sich Sorgen, wie es langfristig weitergeht, wenn die Terminals eines Tages automatisiert werden und Maschinen ihre Aufgaben übernehmen.
Als ich davon las, dachte ich einen alten Seemann aus Bremerhaven. Kapitän Gottfried Hilgerdenaar fuhr gleich nach dem Krieg, den er als Funker eines U-Boots überlebte, auf Fischdampfern aus der Seestadt auf den Nordatlantik. Danach wechselte er auf kleine Frachter aus Bremen. Er erzählte mir eine Geschichte, die in den Docklands von London spielt, im Herbst 1952.
Die Geschichte, die ich für Hilgerdenaar aufschreiben durfte, beginnt mit dieser Bemerkung: „Wir leben in einer Zeit, in der man alles kaufen kann, alles außer Haltung und Stolz. Menschen verlieren ihre Jobs und Konzerne verkünden am gleichen Tag neue Rekordgewinne. Man liest von Hilflosigkeit der Arbeiter und Angestellten und von der Ohnmacht der Gewerkschaften. Damals im Hafen von London lief das etwas anders“.
Der Stolz der Docker
Was er aus den Nebeln über der Themse berichtete, klang ziemlich gemütlich. Die Dockarbeiter trugen statt Blaumann und Helm Sakko, Hemd und Krawatte und sahen eher aus wie eine Jazzband als wie Kerle, die körperlich hart arbeiteten. Morgens warfen sie Hilgerdenaar eine ausgelesene Zeitung ins Bulleye der „Bussard“. Punkt 17 Uhr unterbrachen sie die Arbeit für ihre „Tea Time“, eine heilige Zeit. Dann zog Billy, der Vorarbeiter, einen Lappen aus der Tasche, reinigte die Mugs und schenkte dampfendes Wasser ein
Wehe aber, etwas lief nicht so, wie es die Regeln der Gewerkschaft vorsahen. Dann war Schluss mit gemütlich. Eine Gang von Dockern bestand aus 13 Männern. Fehlte nur einer von ihnen zum Arbeitsbeginn, setzten sich alle anderen auf die Luken, spielten Karten, lasen Spielberichte des FC Millwall und rauchten. Erst, wenn die Gruppe vollzählig war, begann die Arbeit.
Eine Unstimmigkeit genügte, damit die Gangs zuerst das Schiff, dann das Hafenbecken und Stunden später den kompletten Hafen lahmlegten. Ihre Solidarität wirkte und die Chefs der Stauereien überlegten es sich, ob sie einen Arbeiter wegen eines Fehlverhaltens feuern sollten. Streiks konnten sich über Wochen hinziehen. Manchmal dauerten sie sogar monatelang.
„Manche Streiks zogen sich derart in die Länge, dass wir es vorzogen, abzulegen und zurück nach Bremen zu dampfen. Als wir Maiglöckchen transportierten, wuchsen nach drei Wochen Ranken aus den Körben – aber löschen durften wir die Pflanzen nicht“, erinnerte sich Hilgerdenaar.
Chaos in den Lagerhallen
Aus Sicht der Geschäftsleute muss die Lage kaum erträglich gewesen sein. Eine große Menge Schuhe wurde mit einem altertümlichen, hydraulischen Kran regelrecht in eine Lagerhalle geschleudert. Die Kartons rissen auf, überall auf der Pier lagen Schuhe verstreut. Als sich Hilgerdenaar den Schuppen von innen ansah, entdeckte er ein Chaos unterschiedlichster Fracht, die seit Jahren vor sich hingammelte. Niemand wusste, wem das Zeug gehörte, niemand konnte es abholen, aber niemanden schien das zu stören.
Für die Schiffsbesatzungen bedeutete ein Streik: Nichtstun. Einmal öffnete die Crew der „Bussard“ die Luken, um die Laderäume zu reinigen. Ein großer schwarzer Wagen fuhr vor, aus dem Herren mit Bowler-Hüten stiegen: Gewerkschaftsbosse. Sie sahen kurz zu, was die Mannschaft tat. Dann rief einer von ihnen scharf: „Die Arbeit stoppt! Jetzt!“ Wer nicht für immer in London festliegen mochte, tat besser daran, ihren Anweisungen zu folgen.
„Sie waren die wahren Herrscher im Hafen“, sagte Hilgerdenaar.
Eine Geschichte wie aus einer anderen Welt.
Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründeten Ankerherz Verlag. Vorher war er Polizeireporter für die Chicago Tribune und arbeitete als Reporter für Zeitschriften wie max, Stern und GQ von Uganda bis Grönland. Vor kurzem erschien sein neues Buch „Kapitäne!“