Fern von der Heimat, wo die Familien einen furchtbaren Krieg durchleiden. Der Lotse und die Angst der ukrainischen Seeleute. Darum geht es in der aktuellen Folge von Stefans Geschichten des Meeres.
Als der Lotse auf die Brücke des Frachters kommt, um ihn sicher durch die Schleuse des Nordostsee-Kanals zu bringen, starren der Kapitän und sein Erster Offizier auf ihre Handys. Sie telefonieren pausenlos, sogar beim Ablegen, und sie achten kaum auf die nächsten Manöver. Als sie in der Schleuse so in Gespräche vertieft sind, dass ihr Kommando zum Festmachen ausbleibt, wird der Lotse sauer.
Seemann ist emotional aufgewühlt
„Dem Kapitän standen Tränen in die Augen. Er entschuldigte sich, aber er sei völlig fertig“, erzählt mir Gerald Immens, Lotse aus Kiel. Die Frau des ukrainischen Kapitäns lebt in Charkiw, einer hart umkämpften Stadt an der Grenze zu Russland. Sie ist schwer erkrankt, braucht Hilfe – und beim Telefonat hörte der Seemann, wie Granaten explodierten. Zeitgleich rief sein Neffe aus Russland an. Ein Militärpilot, der nun gezwungen ist, gegen die eigene Familie in den Krieg zu ziehen.
„Telefonieren sie weiter“, sagte der Lotse, „ich übernehme das hier.“
Gibt es einen schlimmeren Alptraum für jemanden, der Familie hat? Nach Monaten auf See, verlängert durch die Corona-Pandemie, nicht zu Hause zu sein, wenn die Heimat überfallen wird. „Man muss als Lotse damit umgehen, dass diese Männer auf der Brücke ausfallen“, sagt Immens, Jahrgang 1959, seit beinahe drei Jahrzehnten in diesem Beruf. „Das ist eine emotionale Extremsituation“. (Im Ankerherz Blog liest Du über die verzweifelte Lage der Seeleute im ukrainischen Seegebiet.)
Ukraine ist eine Seefahrtnation
Mehr als 76.000 Seeleute der Welthandelsflotte sind Ukrainer, statistisch jeder siebte Offizier. Was also passiert auf tausenden Schiffen in den kommenden Kriegswochen? Wenn noch mehr Verbrechen des Regimes von Vladimir Putin gegen die Zivilbevölkerung bekannt werden? Auf manchen maritimen Seiten wird spekuliert, dass ukrainische Seeleute in einen Streik treten könnten. Wären sie im Extremfall sogar zu Sabotageakten bereit? Wie der Maschinist, der unter der Woche auf Mallorca versuchte, die Superyacht seines russischen Arbeitgebers zu versenken
Auf einem anderen Frachter mit ukrainischer Schiffsführung fragte Lotse Immens einen Offizier, wie es seiner Familie gehe. Der Seemann zeigte Bilder seiner Frau und seiner kleinen Tochter daheim in der Hafenstadt Odessa. Sie haben sich in der Toilette einen Schutzraum eingerichtet, dem einzigen Zimmer ohne Fenster. Darin harren sie aus. In der Nachbarschaft gab es bereits zahlreiche Verletzte durch fliegendes Glas.
Lotse wird Bild nie vergessen
Natürlich wäre er jetzt gerne daheim, um ihnen beizustehen, sagte der Offizier. Doch dies sei ohnehin nicht möglich: Er würde sofort eingezogen, um im Widerstand zu kämpfen.
„Ich bin eigentlich kein zu sentimentaler Mensch“, sagte mir Lotse Immens. „Doch dieses Bild dieser verzweifelten Familie in der winzigen Toilette, das werde ich nie vergessen.“
Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den Ankerherz Verlag. Vorher war er Polizeireporter für die Chicago Tribune und arbeitete als Reporter für Zeitschriften wie max, Stern und GQ von Uganda bis Grönland. Zuletzt erschien das Buch „Überleben im Sturm“ über die Retter der RNLI. Jede Woche erscheint eine Geschichte vom Meer. Die letzten Folgen: Helden von Snake Island und das Schicksal der spanischen Fischer.